„Es freut mich, dass so viele den Weg bei diesem doch sehr heißen Wetter hierher nach Point Alpha gefunden haben“, begrüßte der Vorsitzende des Kreisverband Fulda der Senioren Union, Karl – Josef Hahner, im nahezu vollbesetzten Saal die Anwesenden. „Es geht heute um das Thema „Aktion Ungeziefer. Wir erinnern an die Zwangsumsiedlung in der DDR vor 70 Jahren. Von diesem Thema hat sicherlich der Eine oder Andere schon mal gehört, aber sind wir mal ehrlich, wer davon nicht unmittelbar betroffen war, der sagt vielleicht: Ja, da war mal was, aber was genau?“ führte Hahner aus. Es geht um das Vergessen, um Unrecht, welches in der jüngsten deutschen Geschichte auf deutschem Boden in der DDR geschehen ist, welches aber nahezu völlig in Vergessenheit geraten ist – Unrecht, das noch heute viele Betroffene belastet.

Besonders freute er sich über den Besuch von 30 Mitgliedern der Senioren Union aus dem Kreis Limburg/Weilburg – Mengerskirchen mit ihren Vorsitzenden Inge Drossard -Gintner und Siegfried Schardt , die mit dem Bus angereist sind und diese Veranstaltung mit einem Besuch von Point Alpha verbunden haben. “ Es ist toll, dass Sie trotz der heißen Temperaturen den Weg zu uns gefunden haben und heiße Sie herzlich willkommen“.

von links Karl-Josef Hahner, Rita Lehmkuhl, beide Fulda, Siegfried Schardt und Inge Drossard-Gintner, beide Limburg/Weilburg

Ferner begrüßte Hahner die Bürgermeisterin von Geisa, Frau Manuela Henkel sowie die beiden Zeitzeugen und Referenten Marie-Luise Tröbs aus Erfurt und Josef Trabert aus Hünfeld.

„Es ist mir ein wichtiges Anliegen, an dieses menschenverachtende Ereignis jüngster deutscher Geschichte vor 70 Jahren in der ehemaligen DDR zu erinnern, welches in der Öffentlichkeit leider kaum Beachtung findet. Diese brutalen Geschehnisse dürfen nicht in Vergessenheit geraten und sie müssen auch im Geschichtsunterricht in den Schulen thematisiert werden“ so Hahner. „Leider ist das nicht so“. Er wies darauf hin, dass wir in Freiheit leben und staatliche Willkürmaßnahmen nicht zu befürchten haben. „Aber weltweit sind Demokratien in der Minderheit und es lohnt sich, für Frieden und Freiheit einzustehen, dafür zu kämpfen. Gerade deswegen müssen wir an die Schrecken und Gräueltaten von Diktatoren und Despoten erinnern und ermahnen, wachsam zu sein, dass sich so etwas nicht wiederholt.

„Dass die DDR alles andere als ein Rechtsstaat war, daran besteht sicher kein Zweifel und überall wo totalitäre Staatsformen Macht ausüben, spielen Menschenrechte und demokratische Grundsätze keine große Rolle „. Er verwies in diesem Zusammenhang u.a. auf die aktuellen Ereignisse des völkerrechtswidrigen Überfall Putins auf die Ukraine, in dem Menschen verschleppt und ermordet werden, auch auf die Verhältnisse in China, wo Menschenrechtsverletzungen und Überwachung zur Tagesordnung gehören, brachte Beispiele aus Belarus, Nordkorea und anderen totalitär geführten Staaten.

Der Ministerrat der DDR beschloss am 26. Mai 1952 die „Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands“, welche als rechtliche Grundlage für die Zwangsumsiedlungsmaßnahmen herangezogen wurde. Eigentlich hätte es lt. Verfassung der DDR eines Gesetzes bedurft. Ab Mai 1952 wurden unter dem Decknamen „Aktion Ungeziefer“ zwischen Rhön und Ostsee einige hundert Orte zwangsweise ins Landesinnere umgesiedelt. Diese menschenverachtende und mit nichts zu rechtfertigende Aktion betraf etwa 15.000 Menschen und sie war nicht konform mit der Verfassung.

In 1961 und 1962, kurz vor dem Mauerbau und Errichtung der innerdeutschen Grenzbefestigung durch die DDR wurden nochmals 3.200 Menschen unter den Decknamen „Aktion Kornblume“, „Frische Luft“, „Blümchen“ bzw. „Neues Leben“, je nach Region, verschleppt. Dabei wurden alleine in Thüringen rd. 30 Ortschaften komplett von der Landkarte gelöscht. Um diesen Maßnahmen zu entrinnen, entschlossen sich mehr als 3.000 Menschen zur Flucht, andere begingen Suizid. Selbst in den 1970er und 1980er Jahren gab es noch vereinzelte Zwangsumsiedlungen aus dem Grenzgebiet.

Zum Abschluss seiner Einführungen erinnerte Hahner auch an den 70. Jahrestag des Volksaufstandes in der DDR am 13. Juni 1953, in dem in rd. 700 Städten und Gemeinden der DDR etwa 1 Million Menschen friedlich demonstrierten. Dieser wurde mit Hilfe der russischen Armee und Panzer sowie brutalem Eingreifen der Sicherheitskräfte unter Gebrauch von Schusswaffen gewaltsam niedergeknüppelt. Auch das macht deutlich, dass den Machthabern in nicht demokratischen Staatsformen jedes Mittel recht ist, ihre Macht zu sichern. Und hieran erinnert sich auch kaum noch jemand.

Frau Manuela Henkel, Bürgermeisterin der Stadt Geisa, bedankte sich für die Einladung und führte in ihrem kurzen Grußwort aus, dass nicht wenige Geisaer Familien von den Zwangsumsiedlungsmaßnahmen betroffen waren. Sie verloren ihre Heimat, ihre Freunde und auch Familien wurden auseinander gerissen. Es war für alle eine schlimme Zeit. „So etwas darf nie wieder passieren“, ermahnte sie.

Frau Marie Luise Tröbs, Präsidentin des „Bund der in der DDR Zwangsausgesiedelten e.V.“ erlebte als Kind hautnah die Zwangsumsiedlungsmaßnahme gegenüber ihrer Familie im Jahre 1962. Sie erzählte, wie es ihr und ihrer Familie erging. Volkspolizei und Stasi kamen am frühen morgen, sie wollte gerade in die Schule gehen, und erklärten ihren Eltern, dass sie Geisa sofort verlassen und ihr Haus räumen müssen. Sie hatten nur wenig Zeit um das Notwendige zusammen zu packen, waren dabei ständig unter Beobachtung und Begleitung der Staatssicherheit, wurden auf einen LKW verladen, abtransportiert und es wurde ihnen nicht gesagt, wohin es geht. Das alles kam ohne Vorankündigung, völlig überraschend und unter Androhung von Gewalt. Sie wurden wie Verbrecher zu den bereitstehenden Fahrzeugen geführt.

So ging es vielen Familien entlang der innerdeutschen Grenze zwischen Rhön und Ostsee. Von der Staatsführung als politisch unzuverlässig eingestufte Bürger wurden gewaltsam ins Landesinnere umgesiedelt. Sie wurden gedemütigt, enteignet und brutal aus ihrer Heimat verjagt und ihrer heimatlichen Wurzeln beraubt. Betroffen waren rd. 15.000 Menschen.

Anfänglich richteten sich die Zwangsumsiedlungsmaßnahmen nur gegen „feindliche verdächtige und kriminelle Elemente“, aber es änderte sich recht schnell, denn die Einschätzung der politischen Unzuverlässigkeit erfolgte oft willkürlich. Hierunter fielen Bürger mit Westkontakt, Kirchgänger, ehemalige Mitglieder der NSDAP und ihrer Gliederungen, ebenso auch Bauern, die mit der Kollektivierung nicht einverstanden waren oder ihren Ablieferungssoll an den Staat nicht erfüllten. Auch Menschen, die Westfernsehen schauten oder sich negativ über den Staat geäußert haben oder Witze darüber machten. Prostituierte, Homosexuelle oder politisch Missliebige, die denunziert wurden. Dabei spielten Neid und Missgunst oft eine große Rolle. Das Denunziantentum hatte sozusagen Hochkonjunktur, erzählte Frau Tröbs. Vielen ist bis heute noch nicht klar, warum sie unter diese Zwangsumsiedlungsmaßnahmen fielen, wer sie denunziert hatte, warum sie verjagt wurden und sind heute immer noch traumatisiert wegen dieser Ereignisse.

Sie schilderte, wie es ihrer Familie ergangen ist. Die meisten Familien aus Thüringen wurden nach Sachsen verschleppt. Ihre Familie gehörten zu den letzten aus Geisa die unter diese Zwangsumsiedlungsmaßnahme fielen und hatten Glück im Unglück, denn sie wurden „nur“ nach Illmenau in Thüringen zwangsumgesiedelt und blieben damit in der Nähe ihrer alten Heimat. Fast alle aus Geisa umgesiedelten kamen nach Sachsen. Sie vermutet, da sie die letzten in Geisa waren, waren in Sachsen keine freien Plätze mehr vorhanden.

Ihr Vater musste sich eine neue Arbeit suchen, weit unter dem was er vorher beruflich gemacht hatte. Sie hatten es anfangs schwer, neue Freunde zu finden, denn man hatte verbreitet, dass sie kriminelle und Staatsfeinde seien. Die Menschen waren ihnen gegenüber anfangs sehr distanziert. Sie durften über die Geschehnisse unter Androhung von Strafe nicht reden und konnten sich deshalb auch nicht gegen diese Anschuldigungen wehren. Es war anfangs eine sehr harte Zeit für die Familie. Auch in der neuen Schule war es anfangs schwierig, denn die Mitschülerinnen und Mitschüler blieben auf Distanz. Doch mit der Zeit änderte sich das anfängliche Misstrauen. Es verschwand und sie wurden allmählich akzeptiert. Allerdings standen sie weiterhin immer noch sehr lange unter der Beobachtung der Stasi.

Bis heute haben die Zwangsumgesiedelten noch keine Entschädigungen enthalten, erzählte Frau Tröbs. Sie kämpft mit ihrem Verein, dass diese Zwangsumsiedlungsmaßnahmen als DDR-Unrecht anerkannt werden – bisher vergeblich. Die Politik hat dieses Thema völlig ausgeblendet – alle Parteien. Sie wird mit ihrem Verein weiter dafür kämpfen, dass das Unrecht anerkannt wird. Es sind davon tausende Schicksale betroffen und hat viele Leben zerstört und sogar beendet.

Als nächster Zeitzeuge erzählte Josef Trabert, der heute in Hünfeld wohnt, in einem sehr bewegten und emotionalen Vortrag von seinen Erlebnissen der damaligen Zeit. Die Erinnerungen kamen dabei immer wieder hoch. Seine Familie war 1952 von den Zwangsumsiedlungsmaßnahmen betroffen. Sein Vater, zu dieser Zeit Bürgermeister von Geismar, war anfangs Mitglied im Thüringer Landtag.

In Geismar wurden bereits im Mai 1952 einige Familien zwangsumgesiedelt. Die Maßnahmen gingen allerdings an den Bürgermeistern der Orte weitestgehend vorbei, sie wurden nicht informiert und vor vollendete Tatsachen gestellt. Die Durchführung oblag ausschließlich der Staatssicherheit. Sein Vater erfuhr durch einen Hinweis, dass seine Familie auch auf der Liste steht. Josef Trabert war damals 12 und ging noch zur Schule.

Sein Vater suchte zu Fuß seine Bürgermeisterkollegen auf und informierte sie. In der Familie wurde der Beschluss gefasst, über die Grenze in den Westen zu fliehen. Es wurde schnell alles Wichtige zusammengepackt und am späten Nachmittag fuhr man mit einem Pferdefuhrwerk Richtung Grenze. Der restliche sehr gefährliche Weg musste dann zu Fuß im Schutze der Dunkelheit zurückgelegt werden. Sie mussten fast alles zurücklassen, hatten nur das Wichtigste zusammengepackt. Ihr Grundbesitz wurde entschädigungslos enteignet. Sein Elternhaus hat Josef Trabert nach der Wende wieder zurückgekauft. Er ging auch wieder nach Geismar zurück, wurde dort zum Bürgermeister gewählt und übte dieses Amt viele Jahre aus.

Der anwesende Vertreter von Point Alpha, wissenschaftlicher Mitarbeiter Marc Meyer, bedankte sich namens der Point Alpha Stiftung bei der Senioren Union für diese interessante und sehr informative Veranstaltung. „Es ist wichtig, Zeitzeugen zu hören und das Erlebte zu erfahren“. Er bat, dass sich Zeitzeugen, egal was sie erlebt haben, sei es als Beamter des BGS, aus der DDR geflohen u.a., sich bereiterklären, über ihre Erfahrungen und Erlebnisse zu berichten und sich an Point Alpha wenden.

Marc Meyer, wissenschaftlicher Mitarbeiter Point Alpha Stiftung

Hahner bedankte sich zum Abschluss der Veranstaltung bei den beiden Zeitzeugen mit einem Buchpräsent sowie bei allen Anwesenden und bei der Point Alpha-Stiftung. Es war eine sehr informative und sehr bewegende Veranstaltung mit großen Emotionen. Er bat, dieses Thema nicht aus den Augen zu verlieren und sich stets für Demokratie, Frieden und Freiheit einzusetzen. Allen Querdenkern und Querköpfen die behaupten, wir befinden uns in einer Diktatur sei gesagt, sie mögen sich mit solchen Themen auseinandersetzen und nachdenken – sofern das ihnen noch möglich ist.

Hahner bedauerte, dass die regionale Presse weder die Vorankündigung zu dieser Veranstaltung veröffentlichte noch einen Berichterstatter schickte. Vielleicht war ihnen dieses Thema nicht wichtig oder spektakulär genug. Eigentlich schade!

Er wünschte allen einen guten Nachhauseweg