Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier hat das zwischen der Ampel-Regierung und der Opposition heftig umstrittene neue Wahlgesetz unterzeichnet. Damit kann das Gesetz in Kraft treten, sobald es veröffentlicht ist. Es wurde bereits von den Linken, ebenso von der CSU angekündigt, dieses Gesetz durch das Bundesverfassungsgericht auf seine Verfassungsmäßigkeit prüfen zu lassen.

Es ist unbestritten, der Deutsche Bundestag darf nicht weiter anwachsen und muss verkleinert werden. Momentan besteht unser Wahlrecht aus einer Mischung zwischen Verhältniswahl und Persönlichkeitswahl. Künftig soll einzig und allein die Zweitstimme darüber entscheiden, wie stark die Parteien im Parlament vertreten sind. Überhangmandate wird es künftig nicht mehr geben und auch die Grundmandatsklausel fällt weg, nach der eine Partei auch dann in den Bundestag einzieht, wenn sie an der Fünf Prozent-Hürde scheitert, dafür aber mindestens in drei Wahlkreisen das Direktmandat gewinnt. Demnach wäre die Linkspartei im heutigen Bundestag nicht vertreten.

Das bedeutet, sollte eine Partei über die Erststimmen mehr Wahlkreise gewinnen, als ihr über die Zweitstimmen zustehen, erhält sie hierfür keine Überhangmandate mehr. Die Direktmandate verlieren an Bedeutung. Sie anzufassen ist ein Fehler und eine Missachtung des direkt zum Ausdruck gebrachten Wählerwillens. Die Folge nämlich ist, es wird in Zukunft Wahlkreise geben, die überhaupt keinen Bundestagsabgeordneten mehr haben.

Das hat gravierende Auswirkungen für diese Wahlkreise. Gehen wir mal davon aus, dass eine Kommune für eine Umgehungsstraße kämpft, oder sich für den Erhalt von Arbeitsplätzen einsetzt oder für viele andere wichtige Dinge den Wahlkreis betreffend, dann ist der örtliche Bundestagsabgeordnete der erste Ansprechpartner. Der Bundestagsabgeordnete kann zwar nicht immer helfen, aber er kümmert sich. Er kommt aus dem Wahlkreis und ist mit diesem verwurzelt. Es ist seine Heimat. Er weiß, wo im Wahlkreis der Schuh drückt und setzt sich ein. Das wird vom Wähler honoriert. Diese Bodenständigkeit geht mit dieser Wahlrechtsreform verloren. Je nach Wahlergebnis ist es realistisch, dass es in einigen Regionen überhaupt keinen Abgeordneten mehr gibt, weil der direkt gewählte Kandidat nicht zum Zuge gekommen ist und die Listenkandidaten aus diesem Wahlkreis zu weit hinten auf der Liste stehen und daher chancenlos sind.

Mit der Direktwahl ist ein Abgeordneter in seiner Region wesentlich mehr verankert als ein Kollege, der aus einer ganz anderen Ecke kommt und über die Liste ins Parlament einzieht. Der direkt Gewählte wohnt in seinem Wahlkreis. Er ist vor Ort, wird sich engagieren, ansprechbar und präsent sein, denn er will ja wieder gewählt werden. Das ist ein ganz entscheidender Punkt. Um über die Parteiliste in den Bundestag einziehen zu können, spielen diese Dinge nur eine untergeordnete Rolle. Hier sind andere Kriterien ausschlaggebend. So ist die Verankerung in der Partei mit einem gewissen strategischen Geschick wichtiger als die Verankerung vor Ort.

Das soll nicht heißen, dass Listenabgeordnete die Probleme in der Heimat nicht interessieren. Keineswegs, aber sie sind nicht so nahe dran am örtlichen Geschehen und auch bei den Menschen weniger bekannt. Sie werden sich mehr um den Wahlkreis kümmern, in dem sie leben und präsent sind.

Wenn aber das Direktmandat nicht unbedingt gleichbedeutend mit dem Einzug in den Bundestag ist, dann sind die vorderen Listenplätze sehr begehrt und es wird ein großes parteiinternes Gerangel geben, ein Hauen und Stechen. Es wird nur derjenige eine Chance haben der es versteht, sich innerparteilich gut in Szene zu setzen und anpassungsfähig ist. Die Kandidaten der großen Städte und Kreisverbände der Parteien, die in den Landesdelegiertenversammlungen dominieren und sich absprechen, sind dabei zweifelsohne im Vorteil. Das flache Land kommt dabei zu kurz, der ländliche Raum wird das Nachsehen haben. Man erobert Landeslisten nun mal nicht, indem man sich um Umgehungsstraßen oder staatliche Zuschüsse für Infrastrukturmaßnahmen oder Musikschulen kümmert, sondern man muss Allianzen in der Partei schmieden und ausreichend Parteidelegierte für sich gewinnen. Kandidaten mit eigenen Meinungen und eigenen Vorstellungen, die möglicherweise mit denen anderer Parteikollegen kollidieren, werden kaum Chancen auf eine gute Platzierung auf der Landesliste haben. Und das ist nicht gut für eine lebendige Demokratie.

Auch ein direkt gewählter Abgeordneter ist nicht frei von Parteizwängen, aber nach dem neuen Wahlrecht ist zu befürchten, dass die regionale Komponente an Bedeutung verliert und hinten ansteht. Das wird Folgen haben. Niedrigere Wahlbeteiligungen sind zu erwarten, ebenso eine weiter wachsende Politikverdrossenheit – und es wird ein noch ausgeprägteres Raumschiffdenken im politischen Berlin geben.

Neue Kandidaten werden es noch schwieriger haben in den Bundestag einzuziehen, denn sie haben zwar durchaus Chancen, das Direktkandidat zu gewinnen. Sie sind bekannt. Gelingt das nicht oder kommen sie aufgrund des neuen Wahlrechts nicht zum Zuge besteht die Gefahr, dass es in diesem Wahlkreis keinen Abgeordneten im Bundestag geben wird. Wenig bekannte Kandidaten haben auf der Landesliste, kaum Chancen auf eine vordere Platzierung. Das ist bei allen Parteien so. Unabhängige oder von den Parteioberen in den Parteizentralen nicht gewünschte Kandidaten werden ebenfalls wenig Chancen haben. Das hat zur Folge, dass es mit der Zeit schwieriger wird, überhaupt noch neue kompetente und geeignete Kandidaten zu finden, die sich aus einem guten Job heraus für ein Mandat interessieren. Es werden auf diese Weise „Parteisoldaten“ produziert. Wir haben heute schon viele Abgeordnete, die keine abgeschlossene Berufsausbildung haben oder aus einem aktiven Berufsleben kommen. Dabei soll der Bundestag einen repräsentativen Querschnitt der Bevölkerung abbilden, ebenso auch alle Regionen.

Besonders schwer wird es für kleine Parteien. Die Linken wären z.B.im heutigen Bundestag nicht mehr vertreten, weil die Grundmandatsklausel wegfällt. Hart trifft es auch die Union, weil die CDU und die CSU eigenständige Parteien sind und das Wahlergebnis von CDU und CSU somit getrennt zu betrachtet wird. Die CSU hat bisher immer die Mehrheit der bayrischen Wahlkreise gewonnen, könnte aber an der Fünf – Prozent Hürde scheitern und damit nicht mehr im Bundestag vertreten sein. 2021 lag ihr Stimmenanteil bundesweit nur bei 5,2 Prozent und ist somit nahe an der Fünf -Prozent Hürde. Wenn diese Stimmen dann nicht mehr in das Wahlergebnis einfließen, wird die Union geschwächt und würde an bundespolitischer Bedeutung verlieren, denn diese Stimmen würden der Union beim Wahlergebnis fehlen. Der Bundestag würde eine gravierende Schieflage in seiner Zusammensetzung erhalten. Hier müsste zumindest eine Sonderregelung gefunden werden, alles andere wäre absurd.

Die Ampel hat in der Manier eines Taschenspielertrick die Wahlrechtsreform für sich genutzt. Die CSU würde auf der Grundlage des letzten Wahlergebnisses aus 2021 sieben Sitze weniger im Bundestag haben. Ich will der Ampel-Koalition nichts unterstellen, aber ein gewisser Beigeschmack der Union zu schaden, bleibt.

Profitieren von dieser Wahlrechtsreform wird die AfD. Sie gewann in den bisherigen Bundestagswahlen noch keine Direktmandate, ist aber mittlerweile bei den Zweitstimmen auf Augenhöhe mit SPD und Grüne. Durch die Kappung von Erststimmen wird ihr das bei der künftigen Sitzverteilung nutzen .

Die Union, ebenso die Linke wollen das Bundesverfassungsgericht einschalten. Jetzt muss das Urteil des Bundesverfassungsgerichts abgewartet werden. Vorher kann die Wahlrechtsreform nicht rechtswirksam werden. Diese Reform trägt nicht zu einer lebendigen Demokratie bei und dürfte auch wegen dem Umgang mit den Direktmandaten einer Überprüfung durch das Bundesverfassungsgericht nicht standhalten.