Am 26. Mai 1952, also ziemlich genau vor 70 Jahren, beschloss der Ministerrat der DDR die „Verordnung über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der Deutschen Demokratischen Republik und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands“, veröffentlicht im Gesetzblatt der DDR Nr. 65 vom 27. Mai 1952, S, 405. Darin wurde offiziell die „Festlegung“ der innerdeutschen Grenze als Ziel genannt.

Ab Mai 1952 wurden auf der Grundlage dieser Verordnung hunderte Dörfer zwischen Rhön und Ostsee entvölkert. Als von der Staatsführung „politisch unzuverlässig“ eingeschätzte Bürger wurden mit ihren Familien zwangsweise von der innerdeutschen Grenze ins Landesinnere umgesiedelt. Sie verloren ihre Heimat. Das Ganze lief unter dem Decknamen „Aktion Ungeziefer“, welches vom Ministerium für Staatssicherheit der DDR vorbereitet und von der Volkspolizei durchgeführt wurde. Davon betroffen waren ca. 15.000 Menschen. Die Aktion war minutiös geplant und galt als „geheime Verschlusssache“.

Das Regime der damaligen DDR kappte mit der Vertreibung aus dem ehemaligen Sperrgebiet auf brutale Art die Wurzeln der betroffenen Menschen. Sie wurden gedemütigt, enteignet und aus ihrer Heimat verjagt und noch heute leiden viele der Betroffenen unter diesem erlittenen Unrecht.

Die LKWs kamen ohne Vorwarnung im frühen Morgengrauen mit gedrosseltem Motor. Die Einwohner wurden quasi im Schlaf überrascht. Von den Pritschen sprangen bewaffnete Volkspolizisten herunter, drangen in die Häuser vor und gaben knappe Anweisungen: „Fertig machen. Sachen packen. Zu Ihrer eigenen Sicherheit müssen Sie den Grenzkreis sofort verlassen“. Die Einwohner durften schnell noch ein paar Habseligkeiten zusammensuchen, dann wurden sie auf die LKWs verladen und in hastig errichtete Notquartiere in der gesamten DDR verteilt.

Auslöser für diese Zwangsumsiedlungen war die bereits eingangs genannte Verordnung des Ministerrats der DDR vom 26. Mai 1952 „über Maßnahmen an der Demarkationslinie zwischen der DDR und den westlichen Besatzungszonen Deutschlands“, die einen zügigen Ausbau der innerdeutschen Grenze vorsah. An der fast 1.400 km langen Demarkationslinie wurden durch das DDR Regime Wachttürme errichtet, hohe Zäune gezogen und ein 500 Meter breiter Schutzstreifen angelegt, der nur bei Tageslicht und mit Sonderausweis betreten werden durfte. Der komplette Grenzbereich bis zu einer Tiefe von 5 Kilometern wurde zur „Sperrzone“ erklärt. Das alles geschah bereits 9 Jahre vor dem Bau der Berliner Mauer.

Die Zwangsumsiedlung richtete sich anfänglich nur gegen „feindliche, verdächtige und kriminelle Elemente“, die schnellstmöglich aus dem Grenzbereich entfernt werden sollten. Die Einschätzung der „politischen Unzuverlässigkeit“ erfolgte oft willkürlich. Das waren Bürger mit Westkontakten, Kirchgänger, ehemalige Mitglieder der NSDAP und ihren Gliederungen. Das konnten auch Bauern sein, die sich der Kollektivierung widersetzten, die das Ablieferungssoll an den Staat nicht erfüllten und Menschen, die sich in irgendeiner Form negativ über den Staat äußerten. Ebenso Personen „mit häufig wechselndem Geschlechtsverkehr“ (Prostituierte) oder einfach politisch Missliebige. Kurzum: Im Stasi-Jargon „minderwertige Subjekte“. Oft waren es auch Neid und Missgunst, die Menschen ins Visier der Staatsmacht rückten. Der Rahmen war von der Staatssicherheit weit gespannt. Manchmal genügten auch Denunzierungen, um auf die Liste der „feindlichen Elemente“ zu gelangen. Vielen ist bis heute noch nicht klar, warum sie verjagt wurden.

Viele Einwohner der betroffenen Gemeinden wehrten sich mit Händen und Füßen, mit Äxten, Sensen und Mistgabeln – praktisch mit allem was sie zu Verfügung hatten. Einige parkten ihre Heuwender mitten auf der Hauptstraße, andere errichteten Barrikaden aus Holzscheiten und Wurzelstöcken. Auch wurden Menschenketten gebildet und die Polizisten attackiert. Am Ende jedoch siegte die Brutalität der Volkspolizisten.

Im Verlauf dieser Zwangsumsiedlungsaktionen wurden komplette Gemeinden im Grenzgebiet entvölkert. Von der „Aktion Ungeziefer“ waren in den 1952er-Jahren insgesamt etwa 10.000 Menschen betroffen. Allein in Thüringen waren zwischen dem 5. und 8. Juni 1952 etwa 1.570 Familien betroffen, rd. 5.300 Menschen aus 240 Ortschaften. Dank einiger Organisationsfehler bei der Durchführung betraf es dann tatsächlich „nur noch“ 3.540 Menschen, denn einige erfuhren vorher von der Aktion und konnten fliehen.

Im Jahre 1961, nach dem Mauerbau, verschleppte die DDR Führung unter dem Decknamen „Aktion Kornblume“ oder „Frische Luft“, „Blümchen“ bzw. „Neues Leben“ – je nach Region – noch einmal weitere 3.200 Menschen. Alleine in Thüringen wurden dadurch 30 Ortschaften komplett von der Landkarte gelöscht. Um dem Abtransport zu entrinnen, entschlossen sich mehr als 3.000 Menschen zur Flucht in den Westen, andere entzogen sich dieser staatlichen Willkür durch Suizid. Selbst in den 1970er und 1980er Jahren gab es noch vereinzelte Zwangsumsiedlungen aus dem Grenzgebiet.

Für die Zwangsumgesiedelten war der Abtransport aus ihren Häusern in den meisten Fällen ein Abschied für immer. Die entvölkerten Dörfer wurden im Zuge des Ausbaus der Grenzbefestigungs- und sicherungsanlagen oft dem Erdboden gleich gemacht. Am neuen Ziel angekommen wurden den Zwangsumgesiedelten eine neue Wohnung oder ein Haus zugewiesen, welches wertmäßig keineswegs dem entsprach, um das sie gebracht wurden. An den neuen Wohnorten wurde dann erzählt, es handele sich um Kriminelle. Die Folge war, dass ihnen erst einmal ein normales soziales Leben nicht möglich war. Eine Entschädigung für den Verlust von Haus und Hof war nicht vorgesehen.

Den Betroffenen wurde die Zwangsumsiedlung mit einer notwendigen Maßnahme zur Sicherung des Friedens begründet. Gleichzeitig machte die Staatssicherheit den Betroffenen unmissverständlich klar, Stillschweigen über das Geschehene zu bewahren. Sie mussten entsprechende Erklärungen unterschreiben und dabei erklären, dass sie die Maßnahme freiwillig durchführen.

Die Zwangsaussiedlungsmaßnahmen von 1952 und 1961 gehören zu den grausamsten Kapiteln der DDR – Geschichte und standen auch im krassen Widerspruch zur DDR-Verfassung. Es gab hierfür keine gesetzliche Regelung, sondern nur ein Beschluss des Ministerrates, der genaugenommen rechtswidrig war. Für die Opfer bedeuteten diese Maßnahmen ein schweres Trauma mit gravierenden Langzeitfolgen. Jeder Ausgesiedelte wurde noch Jahre später von der Stasi überwacht. Ihre Kinder erhielten meist nur unter Schwierigkeiten einen Studienplatz. Den Jugendlichen gelang es oft erst auf dem zweiten Bildungsweg sich beruflich zu etablieren. Die Betroffenen trauten sich nicht, aus Angst vor weiteren Repressalien und bedingt durch die Androhung, über ihr Schicksal zu sprechen. Zugleich gab es ungezählte Opfer, die mit der Isolation und der Diskriminierung nicht fertig wurden, die den Freitod wählten.

Es ist wichtig, dass auch dieser Teil deutscher Geschichte nicht in Vergessenheit gerät. Menschenverachtende Systeme totalitärer Staaten, in denen die Würde des Menschen überhaupt keinen Stellenwert besitzt, in denen sich Autokraten oder Diktatoren nicht um Recht und Gesetz scheren, sondern Angst zum Machterhalt verbreiten, gibt es heutzutage noch zuhauf. Weit mehr als die Hälfte der Menschen weltweit leben in solchen Strukturen. Auch bzw. gerade deswegen ist es enorm wichtig, dass solche Vorkommnisse, zumal sie auf deutschem Boden stattfanden, nicht in Vergessenheit geraten.

Wir wollen am Sonntag, 19. Juni 2022, 15.00 Uhr in einer öffentlichen Gedenkveranstaltung zum 70. Jahrestag in der Gedenkstätte Point Alpha an die Zwangsumsiedlungsaktionen erinnern, um gegen das Vergessen dieser Ereignisse anzugehen. Frau Marie Luise Tröbs, Präsidentin des „Bund der in der DDR Zwangsausgesiedelten e.V.“ und selbst Betroffene wird referieren. Unser Mitglied Josef Trabert aus Hünfeld, ebenfalls Zeitzeuge, wird von seinen eigenen Erlebnissen erzählen. Wir laden hierzu herzlich ein.